Madame hat ein System Womit es die französische EU-Kommissarin Edith Cresson nun vielleicht doch zu weit getrieben hat Von Gerd Kröncke Paris, 11. Januar - Wenn ihr politischer Nachruf geschrieben wird, dann muß man sicher würdigen, daß sie die erste Frau im Hôtel Matignon gewesen ist, die erste Premierministerin Frankreichs. Wer sich schon jetzt daran erinnert, dem fällt ein, daß sie als Regierungschefin wichtige Handelspartner mit lockeren Sprüchen verärgert hatte: Die Japaner seien alle ,,Arbeitsameisen", und die britischen Männer, zumindest jeder vierte, seien für gewöhnlich schwul. Edith Cressons kurze Amtszeit Anfang der neunziger Jahre war ein Alptraum, und nach 323 Tagen mußte sie ihr Mentor François Mitterrand schließlich dringend bitten, freiwillig zu gehen. Die nächste Etappe ihrer politischen Karriere dauert nun schon viel zu lange, dürfte aber die letzte sein. Mitterrand und der bürgerliche Premier Balladur nominierten sie 1994 zur Europakommissarin, und jetzt stellt sich die Frage, wie lange sie das noch sein kann. Die selbstbewußte Frau, die man getrost arrogant nennen mag, hat sich in Brüssel vor allem deshalb so viele Feinde gemacht, weil sie sich für Freunde über das normale Maß hinaus eingesetzt hat. Wenn von Korruption in der EU-Behörde die Rede ist, fällt oft der Name Edith Cresson. Vorsorglich hatte sie schon voriges Jahr Strafanzeige gegen das Pariser Blatt Libération erstattet, weil sie sich von dessen Brüsseler Korrespondenten verleumdet fühlte. Der hatte Merkwürdigkeiten zusammengetragen, die er als das ,,System Cresson" charakterisierte. Etwa die Geschichte mit ihrem Freund, dem Zahnarzt. Madame kannte den Dentisten René Berthelot seit zwei Jahrzehnten aus ihrer politischen Heimat Châtellerault, einer westfranzösischen Kleinstadt, in der sie bis vor kurzem Bürgermeisterin war. Der Dentist hatte als Ruheständler Zeit und durfte eine hochdotierte Studie über den Stand der Aids-Forschung verfassen. Auch der Sohn des Doktors konnte als Versicherungsjurist für die Kommission tätig werden. Oder die Kommunikationsbeauftragte der Kommissarin: Sie war Madame aufgefallen, nachdem sie eine schöne Biographie geschrieben hatte - über Edith Cresson. Die Autorin Elisabeth Schemla informiert nun Brüsseler Journalisten über die Aktivitäten des EU-Ressorts Forschung, Erziehung und Ausbildung, des Bereichs, der Frau Cresson untersteht. Es gebe eben unterschiedliche Kulturen in der Brüsseler Behörde, kommentiert lapidar die deutsche EU-Kommissarin Monika Wulf-Mathies. Andererseits ist Edith Cresson bislang nie etwas nachgewiesen worden. Sie bestreitet regelmäßig und empört jede Andeutung von Korruption und Vetternwirtschaft. ,,Eine Frau an der Macht", hat sie einmal gesagt, ,,provoziert erst die Ungläubigkeit der Männer und dann ihren Zorn. Vor allem, wenn sie nicht dem technokratischen Modell entspricht." Das war schon ihre Lesart nach ihrem Scheitern als Premier. Sie gehört zu jenem Typ Politiker großbürgerlicher Herkunft, die sich aus intellektueller Neigung zu den Sozialisten bekennen oder sich von charismatischen Führern der Linken beeindrucken lassen. Edith Cresson, vor 65 Jahren im Pariser Umland in Boulogne-sur-Seine geboren, wurde von englischen Gouvernanten umsorgt; zum Milieu gehörten das Landhaus und die katholische Privatschule. Ihre gediegene Ausbildung an einer Handelsschule für Mädchen - damals gab es noch solche Institute für höhere Töchter - schloß sie mit Agrardiplom ab. Sie hat über ,,Das Leben der Bauern und Arbeiterfrauen im Landkreis Guémené-Penfao" promoviert. Sie war eine jener jungen Linken, die das Leben der kleinen Leute nicht nur aus Büchern kennen, sondern auch selber welche darüber schreiben. Ihr Mann, ein gutbezahlter Peugeot-Manager, gehört natürlich ihrer eigenen Klasse an. Immer ein Netz Ohne François Mitterrand wäre die Frau nicht in die Sozialistische Partei geraten. Sie war zunächst eher eine Freundin des Sozialisten Mitterrand als selber Sozialistin. Ihre Verehrung für den Liebhaber schöner Frauen mag dabei nicht über die Politik hinaus gegangen sein, aber Mitterrand zeigte sich empfänglich. Sie galt als ,,politische Tochter Mitterrands". Als er im Elysée-Palast einzog, berief er sie in das erste Kabinett der neuen Ära, machte sie zur Agrarministerin, einen Posten, den sie sehr zum Mißfallen der französischen Landwirte ausfüllte. So groß waren die Proteste der Bauern vorher nie und hinterher nur selten. Zwar ist Cresson manchmal gestürzt, aber sie ist immer in ein Netz gefallen, und zurückschauend hat sie die Schuld bei den ,,beleidigten sozialistischen Baronen" gesehen. Man habe sie oft ,,wie eine Hexe in einem mittelalterlichen Prozeß auf den Marktplatz gezerrt". Daß es indes je zu einem Prozeß gegen sie käme, ist unwahrscheinlich. Zwar gab es innerhalb des EU-Apparats etliche Unregelmäßigkeiten, aber der Beamte, der seinerseits gewählte Parlamentarier darüber informierte, ist selber suspendiert worden. Daß Cresson-Freunde und -Vertraute mit Jobs und Aufträgen versorgt wurden, ist vielleicht kein Zufall gewesen. Strafrechtlich relevant war es nicht, daß eine Beraterfirma namens S.I.S.I.E. Millionenaufträge aus verschiedenen Osteuropa-Hilfsprogrammen bekommen haben sollte. Madame hatte nach ihrer Zeit als Premier eine Weile diese Pariser Firma geführt. Leiter der Programme ist ihr vormaliger Kabinettschef. Honi soit qui mal y pense, Schande über den, der Böses dabei denkt. Was das Europa-Parlament dazu meint, wird sich am Donnerstag zeigen, wenn dort über einen Mißtrauensantrag gegen die EU- Kommission abgestimmt wird. Eine Weile sah es so aus, als könnte die Kommissarin auf ein politisches Comeback in der Heimat hoffen. Ihre damalige Ernennung zur Premierministerin habe ,,ein Tabu gebrochen und Frankreich verändert", schrieb ihre Biographin (und Kommunikationsbeauftragte), ,,das Land ist nun bereit, Frauen in Machtpositionen zu akzeptieren. Edith Cresson hat ihnen die Tür geöffnet." Für sie aber dürfte sie nun verschlossen sein.